Am Rande des diesjährigen Vortrags «Radikale Symbiose», in der Vortragsreihe planen, bauen, wohlfühlen in Aalen, konnten wir mit dem Referenten Prof. Roger Boltshauser über seine Arbeit und die Zukunft der Architektur sprechen.
Herr Boltshauser, gibt es bestimmte Materialien oder Bauweisen, die Sie besonders faszinierend finden und regelmäßig in Ihren Projekten verwenden?
Lehm begleitet meine Projekte von Beginn an. Mein Weg zur Architektur führte zuerst über die Kunst, die Plastik. Der Lehm schafft für mich Verbindung zwischen dem skulpturalen Ausdruck und der Welt der Praxis, des Bauens. Seine Sinnlichkeit ist unmittelbar zu spüren und verbindet die Menschen über die direkte Berührung mit dem ganz ursprünglichen Material Erde. Ich habe mich in der Architektur aber stets auch für das ganze Materialspektrum interessiert, insbesondere beschäftigt mich die Kombination Lehm mit den Eigenschaften von beispielsweise Recycling-Stahl oder Holz, die hybrid mit ihm verwendet seine Stärke nutzen und mit ihren Eigenschaften ergänzen können. So entsteht ein weites Spektrum von Anwendungsmöglichkeiten, obwohl der Fokus auf den Lehm auf den ersten Blick als Einschränkung erscheint. Doch gerade in dieser Reduktion liegt für mich ein riesiges Potential für radikale, sehr spezifische Architektur, die nicht austauschbar ist und eine völlig eigenständige Sprache entwickelt.
Wird bauen mit Lehm massentauglich werden?
Aktuell ist der Lehm noch nicht massentauglich. Während für Stahl und Beton über ein Jahrhundert lang industrialisierte Prozesse zu Skalierung und breiter Anwendung geführt haben, während diese Entwicklung beim modernen Holzbau in den letzten Jahrzehnten in hoher Geschwindigkeit nachgeholt wurde, steht die Nutzung des Lehms hier noch am Anfang. Jedoch lassen die großen Fortschritte in Forschung und Fertigung – beispielsweise die Entwicklung von Zuschlagsstoffen und Armierungen, die Anpassung des Normenwerks oder die Elementproduktion mithilfe von Robotik – uns hoffen, dass der Lehm ebenfalls bereits auf dem Weg ist, in großem Maßstab und ohne Spezialkenntnisse anwendbar zu werden. Dies drängt sich für die Zukunft auf, denn heute wird tonnenweise Aushub energieintensiv abtransportiert und deponiert, anstatt für praktisch klimaneutrale Lehmbaustoffe verwendet zu werden. Ich setze mich zusammen mit meinem Lehrstuhl und in Kooperation mit verschiedenen Unternehmen stark ein für die Forschung und Entwicklung des Lehmbaus, der dank genaueren Kenntnissen und Skalierung der Herstellungsprozesse zu einem flächendeckenden urbanen Baustoff werden kann und auch sollte.
Was sind aus Ihrer Sicht die größten Herausforderungen und Chancen in der nachhaltigen Architektur?
Wir stehen aktuell vor der Herausforderung, dass trotz drängender Klimafragen noch kein grundsätzliches Nachdenken über unsere Ansprüche und Gewohnheiten eingesetzt hat. Im Augenblick beobachten wir die Tendenz, stets aufgefordert zu sein, dieselben hohen Standards der letzten Jahre ‘grüner’ umzusetzen, sei es durch den Einsatz klimaneutraler Materialien oder erneuerbarer Energie. Da aber immer noch jeder Bau, ob Umbau oder Neubau am Ende nicht ohne den Einsatz zusätzlicher Ressourcen auskommt, sollten wir uns um eine tiefgreifende Diskussion bemühen: Welche Ansprüche legen wir zugrunde, wo müssen wir wieder lernen, zu verzichten? Welche Flächen können wir einsparen, indem wir sie miteinander teilen? Und welche Ressourcen liegen brach, seien es bereits bestehende Gebäudestrukturen oder Materialien, die wir als Abfall betrachten und deren Potential als Baustoff wir übersehen.
All dies bietet die historische Chance – ich glaube nicht, das ich übertreibe –, den Ausdruck von Architektur, die Gestalt unserer gebauten Umwelt grundlegend neu und radikal zu denken. Wir sind gezwungen, jedes einzelne Bauteil, jedes Raumprogramm kritisch zu hinterfragen, ob es in seiner gewohnten Form, seiner gewohnten Materialisierung und seinem Anspruch noch zeitgemäß und vertretbar ist. Für uns Architekturschaffende ist dies eine unglaublich spannende Zeit.
Wie denken Sie, wird sich die Architektur in den nächsten 10 bis 20 Jahren verändern?
Generell wird sich unsere Welt durch den Einsatz künstlicher Intelligenz in den nächsten Jahrzehnten so grundlegend verändern, dass es naiv wäre, nicht auch den Einfluss auf die Architektur als immens anzusehen. Schon heute verändern sich Entwurfsmethoden in einem Tempo, das es illusorisch macht, zu glauben, die Gestaltung bliebe davon unberührt in unseren eigenen Händen. Wir Menschen sind rückgekoppelte Wesen. Was wir sehen, was wir vorgespielt bekommen, verändert mit der Zeit unsere Sehgewohnheiten, ganz grundlegend unsere Sicht auf die Dinge. Wir werden aufpassen müssen, den Bezug zur Architektur als primär physischer Disziplin nicht zu verlieren. Dazu kommt der enorme Ressourcen- und Rohstoffeinsatz, den der Einsatz von KI verlangt und aufgrund ihrer Wahrnehmung als ‘virtuell’ leicht vergessen geht, hier müssen wir mit Reboundeffekten rechnen, die unsere Bestrebungen, Material und Ressourcen einzusparen, aufzuheben drohen. Die erhöhte Geschwindigkeit dieser Prozesse führt außerdem nicht zu einem tieferen Nachdenken darüber, was Architektur in Zukunft leisten soll. Wir müssen uns erlauben, dafür vehement einstehen – und das wird deutlich schwieriger werden – uns Zeit zu nehmen. Wir denken immer noch im alten Menschentempo und dürfen uns nicht überholen lassen. Die Studierenden an meinem Lehrstuhl lasse ich auch in Zukunft große physische Modelle bauen, lasse sie mit den Händen denken und bin der Überzeugung, dass sich nur so, mit dem Stift auf dem Papier, den Händen an einem Werkstück, begreifen lässt, was Bauen, was Raum in der Realität heißt. Die Reduktion der Mittel, der sehr überlegte und gezielte Einsatz der geeigneten Methoden anstelle einer unüberlegten, fast wuchernden Ausweitung der Darstellungsmöglichkeiten, eine gewisse Strenge mit uns selbst, wird in Zukunft die Herausforderung unserer Disziplin sein und halte ich für unerlässlich, wenn Architektur auch in Zukunft ortsspezifisch, menschlich und verbindend sein soll.
Welche Lösungsansätze empfehlen Sie als Architekt, dass wieder mehr Wohnraum geschaffen werden kann?
Wir müssen den Blick öffnen für Strukturen, die bereits bestehend sind und sich bei geschickter Neuinterpretation als Wohnraum oft sogar mit ganz besonderen Qualitäten eignen. Wir Architekt:innen sollten uns nicht einreden lassen, was ‘der Mieter’ braucht. Den Mieter gibt es nicht, es gibt in unseren Gebäuden am Ende ganz verschiedene Menschen mit ganz verschiedenen Lebensformen und Bedürfnissen. In unserer Erfahrung finden gerade ungewöhnliche Räume oftmals Nutzende, die sich genau über dieses Einmalige freuen, es sich aneignen und im Rahmen der zur Verfügung gestellten Architektur beweisen, dass Wohnen sehr vielfältig ist, keinen Standards folgen muss und durch ganz unterschiedliche Räume befriedigt werden kann. Im Bestand liegt ein großes ungenutztes Potential, das nach unkonventionellen Lösungen verlangt.
Allgemeines zum Vortragsformat – planen, bauen, wohlfühlen in Aalen
Die Stadt Aalen hat zum ersten Mal im Jahr 2009 die Vortragsreihe «planen, bauen, wohlfühlen in Aalen» ins Leben gerufen. Seither findet einmal jährlich, in Kooperation mit der Architektenkammergruppe Ostalbkreis, ein Vortrag zu aktuellen Themen aus Architektur, Stadtentwicklung und Städtebau statt. Es waren bereits namhafte Referenten wie bspw: Prof. Werner Sobek, Johann Senner, Prof. Dr. Jana Revedin, Prof. Markus Lager, Prof. Florian Nagler, Prof. Roger Boltshauser zu Gast. Der nächste Vortrag wird im Frühjahr 2026 stattfinden.
Kurzinfos zum Referenten Roger Boltshauser
Prof. Roger Bolthauser ist Gründer des Architekturbüros Boltshauser Architekten AG in Zürich mit Zweitsitz in München. Er ist Professor an der Eidgenössischen-Technischen-Hochschule (ETH) in Zürich für Architektur und Regenerative Materialien und war Gastdozent an der Hochschule Dessau, Hochschule Luzern, EPFL Lausanne und der TU München. Der Fokus seiner Forschungsarbeit liegt auf dem nachhaltigen Bauen, der Reduktion des Ressourcenverbrauchs und damit einhergehender CO2-Reduktion. Insbesondere das Bauen mit dem Werkstoff Lehm fasziniert ihn und prägt seine architektonische Handschrift. In seinen Projekten wie beispielsweise dem Earth House Rauch in Schlins, dem Case Study Steel House in Rapperswil, dem Hotel LEO in St. Gallen, dem Wooden Highrise in Zwhatt Regensdorf oder dem Sport- und Schwimmzentrum Oerlikon in Zürich spiegelt sich diese Faszination wieder. Besonders geehrt wurde er im vergangenen Jahr, als er den Semperpreis 2024 der Sächsischen Akademie der Künste erhalten hatte.