Das Berliner Architekturbüro Sauerbruch Hutton zählt heute zu den bedeutendsten Wegbereitern der europäischen Gegenwartsarchitektur. Die Ausführungen von Professor Sauerbruch im Kleinen Sitzungssaal des Raghauses bildeten in diesem Jahr einen weiteren Höhepunkt in der Vortragsreihe planen, bauen und wohlfühlen in Aalen. Dass das Büro ein reflektierendes Büro ist, zeigte sich eindrucksvoll an den theoretischen Ausführungen, mit denen Professor Sauerbruch den interessierten Zuhörern die Philosophie des Büros näherbrachte. Sauerbruchs Gedanken zeugen von einer sehr eigenständigen architektonischen Haltung.
Im Laufe des Vortrags wurde deutlich, welche Vielschichtigkeit dem Entwurfsprozess von Sauerbruch Hutton zu Grunde liegt. Das Büro setzt sich intensiv mit Architekturtheorien und Stadtstruktur auseinander, es befasst sich zunächst mit dem konkreten Einzelort, mit dem heute wieder als „Genius loci“ beschworenen Charakter. Der Genius loci, so Sauerbruch, ist ein Zusammenspiel aus verschiedenen vergangenen und vorhandenen Räumen, die durch jeden Menschen auf subjektive Weise wahrgenommen werden. Mit der Ergründung des Ortes versucht das Büro bei jeder neuen Bauaufgabe diese Collage aus geschichtlichen, syntaktischen und räumlichen Beziehungen zu interpretieren und die daraus gezogenen Erkenntnisse in eine architektonische Antwort bewusst umzuwandeln. Wichtig ist es, den Charakter der vorgefundenen „Landschaft“, der von Individualität als auch durch die Beziehung zu anderen Landschaften gekennzeichnet ist, angemessen wiederzuspiegeln. Denn Sauerbruch Hutton entwerfen keine Architektur, sondern Stadtlandschaften, die nicht nur farbenfroh, sondern auch schwungvoll die Stadt bereichern sollen.
Schon früh entschied sich das Duo mittels Farbe die Raumarchitektur zu verändern. Die Erkenntnis „Farbe als Material“ und die Doppelfunktion der Fassade als funktionale und atmosphärische Schnittestelle zwischen Innen und Außen zu nutzen, wurden zum ersten Mal bei der Hauptverwaltung der GWS in Berlin Anfang der 90er Jahre umgesetzt. Ein interessanter als auch lehrreicher Prozess resümierte Professor Sauerbruch. Seither entwickelt das Büro seit nun mehr als 25 Jahren nachhaltige Gebäude als Ergebnis eines komplexen Zusammenspiels bauphysikalischer, statischer und ästhetischer Elemente, die nach Außen nur durch eine polychrome Fassade sichtbar sind. Vor allem die Tektonik und die Farbe der aktiven Gebäudehaut treten mit der Umgebung in Beziehung ohne sie zu überfrachten. Anhand einer großen Bandbreite von Arbeiten wie dem Umweltbundesamt in Dessau, dem Kunstmuseum Brandhorst in München, dem Verwaltungsgebäude der Münchner Rück oder dem Kulturzentrum in Mestre verdeutlichte Matthias Sauerbruch den unterschiedlichen Einsatz und die Bedeutung von Farbe sowie die energetisch nachhaltigen Bauausführen in seinen Projekten.
Er zeigt aber auch die stetigen Weiterentwicklungen oder augenscheinlichen Irrungen, wenn es darum geht, ein Gebäude sowohl energieschonend, als auch städtebaulich-ästethisch zu konzipieren Was vor allem beeindruckt, ist der hingebungsvolle Aufwand, den das Büro betreibt, um für Auftraggeber, Nutzer und Umwelt gleichermaßen die optimale Lösung zu finden. Die Verbindung von funktionaler, ökologisch bewusster und stadträumlich integrierter Planung und der Freude an sinnlichen Formen und Farben ist seit jeher Kennzeichen der Architektur von Sauerbruch und Hutton. Das Bemühen Gegensätzliches in Balance zu bringen und Überlegungen zur Funktionsweise und Gestaltung der Fassade beharrlich zu verfolgen, ist ein beispielhaftes Vorgehen. Eben weil sie nicht nur das Aussehen einzelner Bauwerke, sondern das Erscheinungsbild ganzer Städte bestimmen.
Am Ende des Vortrags war klar, dass integrative Fassaden zwar stets von technikorientierten Themen wie Energieeffizienz, Wirtschaftlichkeit oder Recyclingfähigkeit bestimmt werden, dass deren Erfolg (hinsichtlich der Energiebilanz, aber auch in Bezug auf die Akzeptanz der Nutzer) letztlich stets von einer sorgfältigen und ganzheitlichen Gestaltung abhängt und einen positiven Einfluss auf die gebaute Umwelt nehmen können. Ebenso war eine ganz wesentliche Erkenntnis die Professor Sauerbruch vermittelt hat, dass eine positive Energiebilanz weit weniger von einem hohen Technikeinsatz bestimmt wird. Vielmehr entscheidend ist bei Planungen ein sorgfältiger Umgang mit der Bestandssubstanz. Gerade die Wiederverwendung und behutsame respektvolle Weiterentwicklung von Vorhandenen führt zu großen CO2 Einsparungen. Seine Erfahrungen lehren, eine umfassende Auseinandersetzung mit einer Bauaufgabe bringt allen Beteiligten einen Mehrwert. Für Architekten ergibt sich daraus die große Chance, einen längst an Technokraten verloren geglaubten Bereich der Architektur zurückzuerobern.