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"Mein Leben ist mein Material": Ein Gespräch mit der Schubart-Literaturpreisträgerin Julia Schoch

Am Samstag, 22. April, wird die Schriftstellerin Julia Schoch mit dem Schubart-Literaturpreis der Stadt Aalen ausgezeichnet. Den mit 20.000 Euro dotierten Preis erhält sie für den ersten Band ihrer geplanten Trilogie „Biographie einer Frau“, „Das Vorkommnis“. Michael Steffel, Leiter der Stadtbibliothek Aalen, befragte die Autorin zu ihrem Schreiben und die Attraktion des Genres Autofiktion.

Auf dem Bild ist die Schubart-Literaturpreisträgerin Julia Schoch zu sehen
Schubart-Literaturpreisträgerin Julia Schoch (© Ulrich Burkhardt )

Nicht alle, aber viele Ihrer Werke sind das, was man autofiktional nennt. Die Autofiktion boomt seit Jahren. Was macht Ihrer Meinung nach die anhaltende Attraktion dieses Genres beim Publikum aus?
Eine kurze Erklärung ist: Autofiktionale Texte bedienen das Begehren nach „authentischer Erfahrung“, sie stillen den „Hunger nach Realität“, wie es der amerikanische Autor David Shields sieht. Aber fast noch mehr scheint mir Folgendes ein starkes Bedürfnis unserer Zeit zu sein: Geschichten sollen verfangen. Verfangen heißt ja nichts anderes, als dass etwas hängen oder kleben bleibt und auf diese Weise Bindungen entstehen. Geschichten sollen etwas Verbindliches, Verbindendes haben, weil wir sonstige Bindungen vielleicht losgeworden sind und es jetzt erst merken. Wir sehnen uns nach Unmittelbarkeit, und ja, auch nach Aufrichtigkeit. 
Wohlgemerkt, unter Aufrichtigkeit verstehe ich eine ästhetische Kategorie, einen Gestus, nicht eine absolute, womöglich nachprüfbare Größe. Es ist ein Ton, in den ich mich als Erzählerin letztlich selbst hineinträume. 
Möglicherweise hängt unsere Lust an autofiktionalen Geschichten auch damit zusammen, dass wir uns besonders gut wiedererkennen können in ihnen. Wir erkennen unsere Ähnlichkeit mit anderen ja gerade in unseren Unzulänglichkeiten, in dem, was uns begrenzt, in unserem vergeblichen Verlangen, Antworten zu bekommen. In unserem Unvermögen, aus der Falle des Lebens zu entkommen, gleichen wir uns am stärksten. Fragte man mich nach der Aufgabe, nach Sinn und Ziel von Literatur, wäre es jedenfalls dies: die Ähnlichkeit zwischen Menschen zu beweisen bzw. diese Ähnlichkeit überhaupt erst herzustellen.

Die Leserschaft ist die eine Seite. Was macht die Autofiktion für die andere Seite, also die Produzenten, und konkret für Sie so attraktiv? Oder ist das einfach die Reaktion auf die vorhandene Nachfrage?
Autofiktionales Schreiben hat viel mit Selbstbefragung und Selbsterkenntnis zu tun. Oft wird etwas Existentielles verhandelt. Dabei geht es nicht zwangsläufig um Verlust, aber doch um wesentliche Veränderungen im Leben, um Brüche und Irritationen. Der schreibende Mensch beobachtet sich selbst und denkt dabei über das Schreiben nach. Auch das gehört für mich dazu, und das habe ich eigentlich schon immer getan. Spätestens mit meinem Roman „Mit der Geschwindigkeit des Sommers“ habe ich zu einer Art des Schreibens für mich gefunden, die im besten Fall beides ist: Darstellung UND Analyse. Dabei ist das Überraschende bei der Selbsterkundung beinahe eine Bedingung für mich. Es ist das Unzulängliche, manchmal auch das Unheimliche und Geheimnisvolle, das ich vorher noch nicht weiß, von mir und der Welt. 

Wenn Sie die jeweiligen Anteile von Fiktion und Autobiographischem in Ihren autofiktionalen Romanen quantifizieren müssten, wie würden Sie das Verhältnis angegeben? Was überwiegt?
Was beim Schreiben passiert, ist eine Verwandlung. Da lässt sich nichts quantifizieren. Es sind ja immer die Möglichkeiten meines Ichs, denen ich nachgehe. Fest steht: Mein literarisches Ich läuft mir voraus, es erlebt tiefer als die reale Person, die ich bin, es erfährt die Welt radikaler, intensiver, es ist verletzlicher, es ist aggressiver. Das schreibende Ich hat die Aufgabe, es zu entschlüsseln, es freizusetzen und zu präsentieren. Weil man an ihm besser die Dinge erkennen kann als an dem anderen Ich, dem, das durch den Alltag läuft und sich beispielsweise mittags ein Ei brät. 

Sie haben eine eigenwillige Erzählweise: Sie erzählen Ihre Geschichten in kurzen Fragmenten mit Rückblenden, Vorwegnahmen und mit vielen Lücken, die dann allmählich gefüllt werden – oder eben auch nicht oder in einem anderen Roman. Wie behalten Sie da beim Schreiben eigentlich den Überblick?
Die meisten meiner Bücher sind vom Umfang her nicht sonderlich dick. Dafür sind sie intensiv. Ich umkreise bestimmte Fragen, spiele sie durch, nehme Motive wieder auf usw. Es ist vielleicht eher ein musikalisches Verfahren. Und es liegen tatsächlich Unmengen von Zetteln auf meinem Schreibtisch. Hilfreich ist es, wenn ich die relativ konzentriert studieren kann und nicht noch viele andere Projekte nebenher mache. Dann kann ich ganz abtauchen.

Sie haben auch noch ein zweites Standbein als erfolgreiche Übersetzerin aus dem Französischen. Welchen Einfluss hat das Übersetzen fremder Werke auf das eigene Schreiben? Oder sind das für Sie zwei ganz getrennte Bereiche?
Das Übersetzen ist eine freundliche, freundschaftliche Arbeit, wenn auch ähnlich intensiv wie das Schreiben. Ich nehme mir gern Zeit, wenn es möglich ist, um ein Buch zu übersetzen. Dann mache ich nichts anderes. Oft schreibe ich ja auch ein Nachwort. So habe ich die Möglichkeit, noch länger in dem jeweiligen Universum zu bleiben, auch literaturhistorisch zu forschen. Niemand liest ein Buch so gründlich wie ein Übersetzer oder eine Übersetzerin. Man steigt durch Strukturen, man begreift wie etwas gebaut ist, man beschäftigt sich über Stunden mit nur einem Wort oder Satz. Das muss sich zwangsläufig auf das eigene Schreiben auswirken. Aber in welcher Weise, ist sehr geheimnisvoll und nicht ganz zu ergründen.    

Bei der Lektüre von „Das Liebespaar des Jahrhunderts“ dachte ich mir: Da erzählt dieselbe Erzählerin die Geschichte aus „Das Vorkommnis“ noch einmal, wenn auch mit einem anderen Fokus. Und vieles davon kennt man schon aus Ihrem Roman „Mit der Geschwindigkeit des Sommers“ von 2009. Warum müssen manche Geschichten Ihrer Meinung nach öfter als nur ein Mal erzählt werden?
Als Leserin liebe ich Autoren, deren Bücher am Ende eine ganze Lebensgeschichte ergeben. Peter Handke oder Peter Kurzeck gehören sicher dazu. Mit jedem Buch zeigt sich ein anderer Aspekt ihrer Biografie, ein anderer Blick darauf, ein anderer Ausschnitt. Gleichzeitig ist einem vieles vertraut, weil Bekanntes auftaucht. Kreise schließen sich. Schließlich entsteht ein ganzer Kosmos und man meint diesen Menschen zu kennen. Ähnlich ist es bei mir. Mein Leben ist mein Material, da kommt es naturgemäß zu Überschneidungen. Die zu betonen, oder sie sogar zu widerlegen, von einem Buch zum nächsten, ist ein Reiz für mich. Wir verändern uns ja auch im Laufe des Lebens und blicken jeweils anders auf zurückliegende Situationen. Aber letztlich ergänzt sich alles, selbst das Disparate.

Von C. F. D. Schubart stammt der Satz: „Setz deinen Wünschen nur ein Ziel, wer viel begehrt, dem mangelt viel.“ Wenn Sie sich nach all Ihren bisherigen Erfolgen ein Ziel setzen müssten: Welches wäre das?
Ein nächstes Buch schreiben, das mir etwas abverlangt und mich zugleich zufriedenstellt, weil es machbar ist.

Julia Schoch, geboren 1974 in Bad Saarow, hat Germanistik und Romanistik in Potsdam, Montpellier und Bukarest studiert und ist seit 2003 freiberufliche Autorin und Übersetzerin. Der Roman „Das Vorkommnis“ ist der erste Teil einer geplanten Trilogie mit dem Titel „Biographie einer Frau“. Der zweite Teil „Das Liebespaar des Jahrhunderts“ erschien im Februar 2023. Julia Schoch lebt mit ihrer Familie in Potsdam.

Die Preisverleihung findet am Samstag, 22. April, um 18 Uhr im Kulturbahnhof Aalen statt. Den mit 7.500 Euro dotierten Schubart-Literatur-Förderpreis der
Kreissparkasse Ostalb erhält Slata Roschal für Ihr Buch „153 Formen des Nichtseins“. Am Sonntag, 23. April um 11 Uhr werden die beiden Preisträgerinnen im Rahmen einer Matinee im Kulturbahnhof aus ihren Romanen lesen und ihre Bücher signieren.
 

© Stadt Aalen, 21.04.2023